Von einer, die
auszog, das Leben in Bosnien zu lernen
Ingrid
Halbritter aus Echterdingen ist seit fast sieben Jahren auf dem
Balkan unterwegs, um Lehrer auszubilden - "ihre" Familie hat sie
dort auch gefunden
Bosnien ist für
Ingrid Halbritter zur zweiten Heimat geworden. Die Sprache hat sie
schnell gelernt. Nicht so einfach ist es gewesen, die kulturellen
Konflikte der Bevölkerungsgruppen zu begreifen.
Von
Julia Schneider
Manchmal riecht Armut nach Mäusepipi.
Und verbirgt sich in der Altstadt von Sarajewo, in einem dunklen
Eingang neben einem Blumengeschäft, wo im Winter bei minus
fünfzehn Grad Kinderwäsche auf Schnüren und Leitern trocknet,
hinter einer Holztür, die einen fingerdicken Spalt lässt zwischen
sich und der Zarge, hinter Fensterrahmen, die statt Glas nur Pappe
umschließen, hinter einem Vorhang, der den Flur mit den
Kleiderregalen und dem alten Herd von dem einzigen Zimmer trennt,
in dem sieben Kinder schlafen und im Winter tagsüber in ihren von
Mäusen angenagten Skianzügen vor dem Fernsehgerät sitzen.
Vor fast zehn Jahren ging der Krieg
in Bosnien zu Ende. Doch für die Menschen in dem Balkanland geht
das Kämpfen weiter. In den fast sieben Jahren, in denen Ingrid
Halbritter aus Echterdingen in Bosnien lebt, hat sie dort viele
Menschen getroffen: zurückgekehrte Kriegsflüchtlinge, die ihr
Zuhause verloren haben. Oder ältere Frauen mit drei kleinen Jobs,
die es sich trotzdem nicht leisten können, auch nur ein paar
Lebensmittel auf Vorrat zu kaufen. Aber Menschen, die fast wie
Tiere hausen - das hatte sie noch nicht gesehen. Seit sie im
vergangenen Sommer den Keller von Bisera M. und ihren Kinder
erstmals betrat, besucht sie die bosnische Familie nun mehrmals
pro Woche. Die alleinerziehende 29-jährige Bisera ist eine
Freundin geworden. Ingrid Halbritter plaudert mit ihr und knuddelt
die Kinder. Sie hat der Familie eine Kloschüssel und einen Boiler
besorgt, zwackt etwas von ihrem Gehalt ab, wenn ein Schulausflug
ansteht, keine Windeln mehr für die einjährige Rasema da sind oder
wenn Bisera mal wieder nichts hat, was sie ihren Kinder kochen
kann.
Zwei Jahre nach dem Daytoner
Friedensabkommen von 1995 kam Ingrid Halbritter das erste Mal nach
Bosnien - als Pressesprecherin für den Stuttgarter Verein
Kinderberg, der im kriegszerstörten Land humanitäre Hilfe leistete.
"Damals war nichts normal", sagt sie. Das Land war geteilt - nach
dem letzten Frontverlauf in die Serbische Republik und die
kroatisch-muslimische Konföderation. Man hatte viele Straßen wegen
der neuen Grenzen umgelegt, Brücken lagen in Trümmern, überall
fuhren SFOR-Konvois, Mobilfunknetze und direkte
Telefonverbindungen zwischen den Landesteilen fehlten.
"Niemand ahnte, dass sich dieser
Zustand mal ändern würde." In einer Zeit, als auch in Deutschland
erst wenige das Internet nutzten, erkannte die heute 39-Jährige
darin die Chance für das zerrissene Bosnien: Sie beschaffte
Computer und Telefonkabel und ließ sie in kroatischen, serbischen
und bosnisch-muslimischen Schulen verlegen. "Bosnienkids online"
ermöglicht seither Jugendlichen, sich über die Landesteile hinweg
auszutauschen, weitere Friedensprojekte folgten.
Doch als die Nato 1998 den Kosovo
bombardiert, hat niemand mehr Geld für politische Bildung in
Bosnien übrig. Halbritter bleibt im Land, ohne zu wissen, wie es
weitergehen soll, mit ihr und ihrer Vision: Die
Politikwissenschaftlerin will Lehrer ausbilden, die wiederum ihren
Schülern Menschenrechte, politische Parteien oder die Europäische
Union näher bringen sollen. Ihr Wohnzimmer in Sarajewo wird zum
Büro, nächtelang sitzt sie am Schreibtisch und schreibt Anträge.
Die Suche nach Geldgebern zieht sich hin, denn Bosnien gerät im
übrigen Europa in Vergessenheit.
Als Ingrid Halbritter das erste Geld
von der Unesco bekommt, fängt die Arbeit gerade erst an. Sie muss
skeptische Schuldirektoren überzeugen, ihre Mitarbeiter immer
wieder motivieren, und wenn während der Lehrerfortbildungen
plötzlich Licht und Computer ausgehen, zieht sie mit dem
Benzinkanister los, um den Stromgenerator wieder zum Laufen zu
bringen. Drei Jahre lang arbeitet sie zwölf bis vierzehn Stunden
täglich, sie lebt aus dem Koffer und düst mit ihrem alten Opel
oder in den Flugzeugen von Nato und Bundeswehr über den Balkan.
Die Früchte ihrer Arbeit bündeln sich in einer einzigen Zahl, die
sie genau im Kopf hat: 2183 Lehrer haben sie und ihre Kollegen
bisher ausgebildet - in Bosnien, Kosovo, Kroatien, Albanien,
Bulgarien, Serbien, Montenegro und Rumänien. Im vergangenen
November zeichnete die Unesco ihren Bildungsserver für Demokratie
und Menschenrechte aus.
Bosnien ist für Halbritter zur
zweiten Heimat geworden, die Sprache hat sie nebenher gelernt.
Länger hat sie dagegen gebraucht, um die subtilen Konflikte
zwischen den Menschen wahrzunehmen, wie sie sagt. "Ein bosnischer
Serbe kann Sehnsucht nach Sarajewo haben. Doch wenn er dort in
einen muslimisch-bosnischen Haushalt kommt, fühlt er sich erst mal
unwohl. Er weiß, seine Landsleute wollten die Stadt in Schutt und
Asche bomben, und antizipiert, der bosnische Muslim denke, er
trage eine Mitschuld."
Wo kommst du her? Warst du weg im
Krieg? Wo warst du? Was hast du gemacht? Halbritter hat gelernt,
dass das in Bosnien viel zählt und dass Freiheit für die Menschen
bedeutet, unter ihresgleichen zu leben. Sie hat lange gebraucht,
um zu verstehen, dass selbst der Nachname ein Statement für die
Vergangenheit ist. Bosnischer Muslim, Serbe oder Kroate - eine
Buchstabenkombination verrät, wer wo hingehört. Umso mehr
empfindet sie es als ungerecht, wenn vermeintlich gut informierte
Bekannte in Deutschland zu wissen meinen, wie Bosnien und der
Balkan funktionieren. "Es ist zu einfach, zu sagen: Das Land ist
politisch geteilt, und die Leute können sich nicht leiden."
Die Jahre der 14-Stunden-Tage sind
vorbei. Doch freie Zeit nimmt sich Ingrid Halbritter auch jetzt
nicht häufig. "Wenn Privatleben heißt, ins Kino oder essen gehen
oder Freunde treffen, das mache ich schon - aber selten", sagt die
kleine ernste Frau mit den kurzen braunen Haaren. Sie wohnt über
ihrem Büro in einer gemütlichen Dachwohnung auf den Hügeln von
Sarajewo, blickt hinab auf die türkische Altstadt, von der aus
sich die riesigen muslimischen Friedhöfe bis hoch zu den letzten
Häusern erstrecken. Halbritter raucht selbst gedrehte Zigaretten,
vor ihr auf dem Tisch ein Strauß Mimosen, wie sie in Sarajewo
gerade überall verkauft werden. Manchmal denkt sie, dass sie in
Bosnien nicht normal leben kann. "Weil ich nicht mit den Menschen
zusammen sein kann, die ich wirklich gerne mag." In Bosnien hat
Halbritter viele Freunde gewonnen - und wieder verloren. Denn die
Ausländer, die für internationale Organisationen arbeiten, gehen
nach spätestens drei Jahren wieder. Und dann bricht der Kontakt in
der Regel ab.
Weil Ingrid Halbritter das weiß,
lässt sie sich nicht mehr so schnell auf neue Freunde ein. "Für
meine Arbeit hier zahle ich den Preis, dass ich manchmal ganz
schön einsam bin." Doch zurück nach Deutschland zu gehen - das war
für sie nie eine echte Möglichkeit. Sie weiß, dass das
Bildungsprojekt dann zum Stillstand kommen würde. Eine eigene
Familie hat sie nicht gegründet, doch seit letztem Sommer in
Bisera und ihren Kindern eine gefunden. "Ich glaube, ich musste
die einfach treffen", sagt Halbritter. Um die Familie auch
langfristig zu unterstützen, sucht sie jetzt in Deutschland nach
Paten für Menschen wie Bisera, die anderthalb Flugstunden von
Stuttgart entfernt nicht wissen, was sie morgen essen werden. Dazu
hat sie jüngst Pharos gegründet, einen Verein für humanitäre Hilfe.
"Auch wegen meiner neuen Familie kann ich jetzt nicht wieder nach
Deutschland gehen", sagt Ingrid Halbritter. "Es gibt hier noch so
viel zu tun."
Informationen
zum Bildungsserver: www.dadalos.org; Informationen zum Patenkreis:
ingrid.halbritter@dadalos.org
© 2005 Stuttgarter Zeitung
Wir bedanken uns bei Autorin und
Zeitung für die freundliche Genehmigung zur Verwendung dieses
Artikels.