Hilfe für ein Land ohne Sozialsystem
LEINF.-ECHTERDINGEN: Ingrid Halbritter lebt und lehrt in Sarajevo -
Verein Pharos bietet Bildung und humanitäre Hilfe an
Der Bürgerkrieg in Bosnien ist Jahre vorbei. Doch den Namen
Sarajevo verbindet man nach wie vor mit Bildern von Heckenschützen
und frischen Gräbern. Ingrid Halbritter hat ihren Heimatort
Echterdingen gegen Sarajevo eingetauscht. 1997 war sie zum ersten
Mal dort, um Demokratie zu lehren. Jetzt ist sie Vorsitzende des
Vereins Pharos, der Bildungsarbeit und humanitäre Hilfe leistet.
Von Roland Kurz
Vier, fünf Mal im Jahr kommt die 43-jährige Grenzgängerin, wie sie
sich nennt, nach Echterdingen. Ihr VW-Bus, das rollende Büro, steht
dann bei Freunden vor der Tür. Ein paar Vorträge, Besprechungen im
Verein, Besuche, dann fährt die Politologin zurück. In Sarajevo
wartet inzwischen auch ihr Mann, den sie 2005 kennengelernt hat. Auf
den ersten Blick wirke Sarajevo wie eine ganz normale
mitteleuropäische Großstadt, erzählt sie. Schöne Cafés, viele
Kulturveranstaltungen, deutsche Autos auf den Straßen.
Ein Tourist müsse schon genau hinschauen, um noch die
Einschusslöcher zu sehen. Nicht sichtbar ist, wie die Volksgruppen
zueinander stehen. „Noch immer ist das Land zutiefst geteilt“, sagt
Ingrid Halbritter. In den Medien sei der Krieg nach wie vor präsent,
beispielsweise wenn wieder ein Massengrab gefunden werde. Auch in
ihrem Alltag sieht Halbritter die Folgen. Ihr Spazierweg mit dem
Hund führt durch die alte Frontlinie, durch die Schützengräben,
durch den verminten Wald.
Demokratie hat keine Tradition
Das Verhältnis zwischen den Volksgruppen verbessern, das hatte sich
Ingrid Halbritter 1997 vorgenommen, als sie mit dem Studium fertig
geworden war und Suzana Lipovac kennengelernt hatte. Deren Projekt
Kinderberg stellte die junge Politologin an, um Demokratie zu lehren.
„Demokratie hat dort keine Tradition“, erklärt sie. Ihr Team bildete
Lehrer fort und entwickelte Material, um über das Internet zu
schulen. In einer zerstückelten Region sei das Internet der einzig
gangbare Weg gewesen. Geld für die Informationszentren und den
Bildungsserver
Daedalos kam genug von der UNESCO. Bis zu 30 Mitarbeiter
beschäftigte der Verein Daedalos.
Nebenbei hat Ingrid Halbritter privat geholfen, etwa Geld gesammelt,
damit sich ein Rückkehrer eine Kuh kaufen konnte. Doch größere
Hilfsaktionen brauchen ein organisatorisches Rückgrat, nicht zuletzt
wegen der Spendenbescheinigungen. 2004 wurde deshalb der Verein
Pharos gegründet. Vorsitzender ist Hans Krämer, früher Vorstand bei
Kodak in Stuttgart-Wangen. Die 44 Mitglieder wohnen auf den Fildern
und in Stuttgart. Fast 40 000 Euro hat der Verein voriges Jahr an
privaten Spenden gesammelt.
Invaliden müssen betteln
„Die Sozialsysteme in Bosnien funktionieren nicht“, klagt Halbritter.
Rentner könnten ohne Hilfe ihrer Kinder nicht überleben. Arbeitslose
bekämen nur kurze Zeit Unterstützung. Und vor drei Monaten sei die
Sozialhilfe als Folge der Wirtschaftskrise vollends abgeschafft
worden. Invaliden, die vorher noch 90 Euro monatlich bekommen hätten,
bleibe nur noch das Betteln.
Mit Hilfe von Pharos wurde in Fakovici, ein Dorf bei Srebrenica,
eine Schulküche eingerichtet, um 21 Kinder gesünder zu ernähren und
die Familien zu entlasten. „13 000 Euro jährlich sind ein großes
Projekt für einen kleinen Verein“, stellt Halbritter fest, „aber
jeder begreift, dass Kinder gut essen müssen“.
Draußen auf dem Land sind die Marktstrukturen kaputt, erzählt sie
weiter, die landwirtschaftliche Genossenschaft gebe es nicht mehr. „Da
verfaulen gerade 4000 Kilo Brombeeren, weil nicht mal Geld für
Marmeladengläser da ist.“ Ein Pharos-Mitglied, der
Entwicklungsexperte ist, will jetzt ein paar Arbeitstage investieren
und das Obstproblem analysieren.
Familie haust im Keller
Wie schwierig helfen sein kann, zeigt das Beispiel von Bisera M.,
die ihre sieben Kinder allein erzieht. Die Familie haust in einer
Notunterkunft. Ein modriges Kellerloch mit einem Sofa zum Schlafen.
Alle Versuche, die Gemeinde zur Hilfe zu animieren, scheiterten. Als
ein Fernsehsender darüber berichtete, versprach ein Bauunternehmer
vor laufender Kamera, ein Haus zu bauen. Pharos kaufte den Bauplatz
in einem Vorort Sarajevos. Doch wegen der Wirtschaftskrise zog der
Unternehmer seine Zusage wieder zurück. Ingrid Halbritter baut nun
mit Geld aus ihrem Erbe ein Fertighaus, und der Verein zahlt die
Miete für die Familie.
Unterstützt wird auch eine schwer kranke Mutter. Eine Roma, die
weder gültige Dokumente besitzt noch krankenversichert ist.
Versichert wird man nur mit Schulabschluss. Halbritter hält dies für
nicht vereinbar mit der Menschenrechtskonvention, die schließlich
auch von Bosnien-Herzegowina unterzeichnet wurde. Diese Rechtsfrage
will sie jetzt klären lassen.
Ingrid Halbritter kennt man mittlerweile in der Stadt - nicht nur,
weil sie mit ihrem Fahrrad durch das bergige Sarajevo fährt.
Menschen sprechen die Streetworkerin an und schildern ihre Probleme.
Sie selbst ist bei Pharos angestellt, um Bildungsarbeit zu leisten,
die dem Verein wiederum Einnahmen bringen. „Ich brauche kein
deutsches Gehalt, ich komme mit wenig klar.“
Artikel vom 21.08.2009 © Eßlinger Zeitung
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