Man hat
viele Menschen auf dem Balkan einfach vergessen
LEINF.-ECHTERDINGEN:
Politikwissenschaftlerin organisiert ehrenamtlich Spenden für
Notleidende in Bosnien
Seit fast sieben Jahren arbeitet Ingrid Halbritter in
Sarajewo als so genannte Friedensfachkraft. Als Leiterin des Vereins
D@dalos kümmert sie sich um demokratische Bildung in Südosteuropa.
Nach Feierabend leistet die Politologin aus Echterdingen humanitäre
Hilfe. "Viele Menschen leben dort in absoluter Armut", stellte sie
fest. Jetzt will sie in Deutschland über die Zustände auf dem Balkan
berichten.
Die dünne Frau nestelt an ihrem Tabakpäckchen und rollt sich dann
mit nervösen Händen eine Zigarette. Das große, Fotografenobjektiv
mache sie unruhig, sagt sie. Wegen der Ähnlichkeit mit einer Waffe.
Ingrid Halbritter hat schon viel gesehen in ihrem 39-jährigen Leben.
Das fällt im Gespräch als Erstes auf. Als sie anfing, in Bosnien zu
arbeiten, herrschten dort nach dem Krieg katastrophale Zustände. Das
habe sich bis heute vielerorts nicht geändert. Ein soziales Netz
gebe es nur für die Wohlhabenden, die medizinische Versorgung sei
unzureichend, viele lebten "von der Hand in den Mund". Mit D@dalos
leistet sie demokratische Entwicklungshilfe, indem sie
Unterrichtsmaterialien zur politischen Bildung erstellt und Lehrer
schult. Bei ihrer Arbeit fielen ihr die sozialen Kontraste ins Auge.
Arme stehen vor dem Nichts
Die bosnische Stadt Srebrenica zum Beispiel sei größtenteils
wieder aufgebaut, viele Hilfsorganisationen trugen dazu bei. Der Ort
war durch das dort stattgefundene Massaker an 8000 Bosniaken auch
über die Landesgrenzen hinaus bekannt geworden. "Schon ein paar
Kilometer weiter nördlich, in Fakovici, sind die Menschen vergessen
worden", sagt Halbritter. Sie kam durch Zufall in den kleinen Ort an
der Grenze zu Serbien. Dort leben seit Anfang der 90er Jahre zehn
alte, verarmte Menschen in einem baufälligen Schulgebäude. Ohne
Strom und Wasser, ohne Toiletten und Duschen, ohne medizinische
Hilfe.
Ingrid
Halbritter traf gemeinsam mit einer ortsansässigen
Frauenorganisation die Entscheidung, das Schulgebäude zu einer Art
Altenheim umzubauen. Geld bekommen die Bewohner keines vom Staat,
denn eine Rente oder Sozialhilfe gibt es nicht. "Wer keine Familie
mehr hat und nicht arbeiten kann", so die Politikwissenschaftlerin,
„für den ist der Ofen aus".
Ingrid Halbritter muss nicht nachdenken über die Frage, warum sie
sich engagiere: "Ich kann an dem Leid der anderen einfach nicht
vorbeigehen." Auch wenn das für sie bedeutet, ihre gesamte Freizeit
zu investieren oder von ihrem Gehalt etwas abzuzweigen. Die Mittel
für die Bedürftigen hat die Echterdingerin bisher als Spenden von
Freunden oder von anderen Vereinen erhalten. Doch humanitäre Hilfe
auf dem Balkan sei "ein Fass ohne Boden". Bisher wachse ihr das
Ganze noch nicht über den Kopf, aber jetzt müsse sie "Strukturen
schaffen, um die Spenden zu organisieren." Eine langwierige,
mühselige Arbeit, die gute Kontakte erfordert. Als
Partnerorganisation zu D@dalos hat Halbritter nun in Stuttgart den
Verein Pharos gegründet. Durch den Verein werden die Spendengelder
kanalisiert. Zudem wird gewährleistet, dass sie direkt den
Notleidenden zu Gute kommen.
Ein Ende ihrer Beschäftigung auf dem Balkan ist vorerst noch nicht
in Sicht, obwohl D@dalos nur jeweils für ein Jahr im Voraus planen
kann. Beim Auswärtigen Amt, welches die Stelle von Ingrid Halbritter
bezahlt, müssen Fördermittel in jedem Frühjahr neu beantragt werden.
Das bedeutet für die Chefin, dass sie jedes Jahr um ihre Stelle und
um ihre Organisation erneut zittern muss. Kein Grund zum Verzweifeln:
"Ich bin ein Optimist, sonst würde ich das alles hier nicht machen."
Heute Abend hält Ingrid Halbritter einen
Vortrag zum Thema "Entwicklungshilfe mitten in Europa:
Demokratie-Bildung und humanitäre Hilfe in Südost-Europa".
Veranstaltungsort ist das evangelische Gemeindehaus in Echterdingen,
Bismarckstraße 1. Beginn ist um 20 Uhr.
[von Dorit Brockmeier, Eßlinger Zeitung vom 26.08.2005]
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