Stuttgarter Zeitung vom 09.12.2005
Bei den bosnischen Serben in Fakovici
Das Überleben ist bisweilen auch Last
Zehn Jahre nach
dem Friedensschluss in Bosnien ist der Hass erkaltet. Auch die
bosnischen Serben haben durch den Krieg ihr altes Leben verloren und
suchen nun verzweifelt nach einem neuen.
Von Dieter Fuchs,
Fakovici
Die Serben aus Fakovici wollten keinen
Krieg, sie wollten eine neue Straße. Das breite Tal des Flusses
Drina hier an der Grenze Bosniens zu Serbien, auf halbem Weg
zwischen Sarajewo und Belgrad, sorgte für reiche Obst- und
Gemüseernten. Die staatliche Kooperative in Fakovici kümmerte sich
um die Vermarktung und die Traktoren, Lastwagen und Erntemaschinen.
Und über die alte Straße war vor 40 Jahren mit dem Handel der
Wohlstand und die Bildung der Studenten nach Fakovici gekommen. Doch
der Asphalt zerbröselte zusammen mit Jugoslawien.
Der Weg von der Bezirkshauptstadt
Bratunac, vorbei an Maisfeldern, neuen und notdürftig geflickten
Häusern ins 24 Kilometer entfernte Fakovici, ist rissig, löchrig und
ausgefranst. Manchmal verengt er sich auf eine Fahrspur. Der Bus
hält vor der Grundschule von Fakovici, wo elf Grundschüler pauken
und elf alte Menschen ihr Leben fristen. Denn nicht die Straßenbauer
kamen 1992 ins Drina-Tal, sondern der Krieg. Er schwemmte die Alten
wie Treibgut in die Schule, wo sie noch heute sind, verwittert und
nutzlos geworden.
"Wenn ich gewusst hätte, dass ich hier
ende, hätte ich mich umgebracht", sagt Ruza Andric, tunkt einen
Zuckerwürfel in ihren türkischen Kaffee, lutscht ihn ab und legt den
Rest wieder auf ihre Untertasse - wie es von alters her Sitte ist
bei Serben und Muslimen. Am St.-Vitus-Tag, dem 28. Juni 1992, seien
"die Türken" über den Berg gekommen. Während sich die 74-Jährige an
den Angriff der bosnisch-muslimischen Soldaten erinnert, bekreuzigt
sie sich immer wieder. "Eine Stunde Fußmarsch bergauf" liegt ihr
Dorf Ruljevici von Fakovici entfernt. Zusammen mit ihrer Freundin
Milenija Brankovic, die im Klassenzimmer neben ihr wohnt, schwärmt
Andric von den alten Zeiten. 15 Häuser und eine kleine Schule waren
ihre Welt. "Wir hatten alles, nur Kaffee, Zucker und Glühbirnen
mussten wir in Fakovici kaufen."
Beide Frauen hatten in die Dorfsippe
vor mehr als 50 Jahren eingeheiratet und sind Freundinnen geworden.
"Wir waren beim Brotbacken, da kamen die Nachbarn gelaufen und
warnten uns vor den Türken." Die Dörfler liefen ins Tal,
übernachteten auf Feldern und in Flüchtlingslagern. 1993 wurden sie
in die Häuser vertriebener Muslime entlang des Drina-Tales
einquartiert. Doch nach dem Krieg vor zehn Jahren kamen die Muslime
zurück oder verkauften ihren Besitz. Schließlich landeten Ruza
Andric, deren Mann "aus Gram" im Exil gestorben ist, und ihre schon
1980 verwitwete Freundin Milenija in der Schule von Fakovici.
Ruljevici ist zerstört wie alle 34 Bergdörfer oberhalb von Facovici.
So sitzen die beiden Frauen auf
Brankovic' Bett, mit ihren bunten Kopftüchern, den schwarzen Westen,
weiten Blusen, gedeckten Röcken und schwarzen Strümpfen und sind
doch gut zu unterscheiden, weil Andric groß und rund, Brankovic
klein und runzlig ist. Ihre Kinder sind entweder gestorben oder zu
arm, um ihnen zu helfen. Im rechten Flügel des 40 Jahre alten
Betonschulhauses wohnen die alten Frauen mit ihren Leidensgenossen
in Klassenzimmern und Materialkammern, im linken lernen die letzten
Schüler des Dorfes. Putz fällt von den Wänden, durch Fensterritzen
und Sprünge pfeift der Wind durchs Treppenhaus, in dem sich
Holzvorräte für den Winter stapeln. Das Schlimmste für die beiden
Frauen ist die Untätigkeit. Andric hat einen kleinen Garten in der
Nähe, Brankovic bekommt 90 Mark Rente. Hin und wieder helfen ein
paar gute Menschen.
Soldaten der westlichen Allianz haben
einige Öfen vorbeigebracht, und zusammen mit dem Stuttgarter Verein
Pharos wurde der Neubau von zwei Toiletten und einer Dusche
organisiert. Massen von durchziehenden Flüchtlingen hatten in den
neunziger Jahren sämtliche Heizungskörper abmontiert und auch die
alten Sanitäranlagen unbrauchbar gemacht. Die Alten mussten seither
unten am Fluss ihre Notdurft verrichten. Den Strom für die
Unterkünfte zahlt die Gemeinde. Mit Hilfe ihrer Nachbarn hat
Milenija Brankovic vor Kurzem sogar ein Spanferkel gegrillt, um den
höchsten Festtag im Jahreslauf von orthodoxen Serben zu begehen, den
Namenstag des Familienheiligen.
Für Dragoslav Stjepanovic ist das noch
Luxus. Von Fakovici aus zieht sich an Weiden, Birken und Kalkfelsen
entlang ein holpriger Schotterweg durch das Mlecva-Tal hinauf. Nach
drei Kilometern geht es nur noch zu Fuß weiter, eine halbe Stunde
steil bergauf. Dieser Weg, den früher ein Traktor bewältigen konnte,
ist verfallen. Von Sträuchern und Gras überwachsen, von der
Frühjahrsschmelze ausgewaschen und abgetragen, ist er mancherorts
kaum mehr zu erkennen. Die Aussicht auf die Hügelketten des tausend
Meter hohen Berges Krk und die wildreichen Laubwälder haben früher,
in den guten Zeiten, die Jagdgesellschaften aus Belgrad hierher
gelockt. Vorbei an den hohläugigen Ruinen des Dorfes Mlechva, in dem
früher 29 Familien wohnten, kommt man schließlich zum Dorf der
Stjepanovics'.
Vor dem Krieg lebten 50
Familienmitglieder in Obarac, heute sind es noch vier: Dragoslav,
zwei seiner erwachsenen, aber geistig behinderten Kinder und der
Cousin Nicola. Es gibt keinen Strom und kein fließendes Wasser. Die
Ruinen, die Wege, alles ist zugewachsen. Der eine 78, der andere 79
Jahre alt, ausgemergelt und gebeugt, kämpfen die beiden Männer von
Monat zu Monat hier oben um ihre Existenz. Am Ende des Winters gibt
es nur noch Mehlsuppe und Brot. Die nächsten Dörfer entlang des
alten Weges sind muslimisch. Früher kaufte man dort ein, ging
gemeinsam zur Schule. Dann hat man sich gegenseitig umgebracht. Die
Stepanovics sind zurückgekehrt, um dem Elend in serbischen
Flüchtlingslagern zu entgehen. "Ein, zwei Jahre halten wir uns noch,
ohne Strom und ohne einen Fahrweg ins Tal. Dann müssen wir aufgeben."
Ob die Dörfer von brandschatzenden
Muslimen oder von serbischen Granaten zerstört worden sind, ob sich
in der Schule von Ruljevici, dem Dorf der beiden alten Frauen, dmals
ein serbisches Waffenlager befunden hat, wie es die muslimische
Seite behauptet, oder ob es sich um reguläre Kämpfe oder Massaker
handelte - das und noch mehr wird derzeit in Den Haag verhandelt.
Der bosnisch-muslimische General Naser Oric steht dort wegen
Kriegsverbrechen vor Gericht. Das Urteil soll bald fallen, doch wird
es hier an der Grenze zu Serbien so oder so keine Triumphgefühle
auslösen. Zu nahe liegt Srebrenica, wo vor zehn Jahren, 20 Kilometer
entfernt von Fakovici, 7000 waffenfähige Muslime gefangen genommen
worden waren und verschwanden.
Häufig werden in der Gegend
Massengräber entdeckt mit 20, 50 oder hundert muslimischen Toten. Zu
viele Muslime sind aus dem Drina-Tal von serbischen Milizen im April
1992 vertrieben worden - allein in der Provinzstadt Bratunac waren
es 20 000. Zu offensichtlich ist die Verderbtheit und Unfähigkeit
der eigenen nationalistischen Politiker seitdem geworden. "Das
einfache Volk, ob Muslime oder Serben, hat für all das bezahlt. Wir
tragen die Bürde für unsere Führer, bis an unser Lebensende", so
lautet das Fazit von Ljubinka Dokic.
Die letzte Ladenbesitzerin von
Fakovici trifft sich zusammen mit der letzten staatlichen
Angestellten der Gegend, der Grundschullehrerin, am Abend mit dem
Bürgermeister. Er beklagt sich über die Führung der
bosnisch-serbischen Teilrepublik. Niemand kümmere sich um die
Provinz. Ihm fehlt Geld, Einfluss und sogar eine Vergangenheit, auf
die er stolz zurückblicken könnte. Schon das sozialistische
Jugoslawien hatte Fakovici vor 25 Jahren aufgegeben. Die
Verantwortung für den Krieg, der den Menschen den Rest gab, will
auch er nicht übernehmen und ergeht sich in Verschwörungstheorien
von dritten Mächten und ihren Interessen auf dem Balkan. Die Frauen
von Fakovici sind froh, wenn er ihnen Empfehlungsschreiben ausstellt
und bei den Behördengängen hilft.
Obwohl ihr Mann bei dem muslimischen
Angriff auf Fakovici im Oktober 1992 ums Leben kam und fast das
gesamte Dorf zerstört worden war, kam Ljubinka Dokic als eine von
wenigen ein Jahr nach der Vertreibung zurück. Es gibt für die knapp
400 Haushalte hier keinen Arzt mehr und keine Post, die
Bauerngenossenschaft ist ebenso geschlossen wie die Mittelschule und
die beiden Wirtshäuser. Telefonanschlüsse gibt es wenige. Dokic ist
die Letzte hier vom Jahrgang 1963. Aber es ist die Heimat, die ihr
Mann für sie verteidigt hat. Sie hat ihre Wohnung wieder aufgebaut
und einen neuen Lebensgefährten gefunden, einen Flüchtling aus
Sarajewo. Sie will durchhalten. Die Frauen von Fakovici
organisierten sich. Man renovierte die Klassenzimmer der
Grundschüler, ließ den kleinen Sportplatz teeren, renovierte die
Straßenbeleuchtung und richtete ein Gemeindezentrum ein.
Ihr Verein Golub (Taube) knüpfte
internationale Kontakte. Mit dem Stuttgarter Verein Pharos soll die
Schule von Fakovici zum Altersheim umgebaut werden. Mehr als 150
alte Leute leben in der Gegend in verlassenen Schulen. Zusammen mit
den UN hat Golub 14 000 Hühnerküken an bedürftige Rückkehrerfamilien
im Gemeindegebiet verteilt, paritätisch für muslimische und
serbische Häuser. "Für uns gibt es nur gute und schlechte Menschen",
sagt Ljubinka Dodic. "Man kann eigentlich nur zusammen weinen, wenn
man sieht, was aus allem geworden ist."
© 2005 Stuttgarter Zeitung
Wir bedanken uns bei Autor und
Zeitung für die freundliche Genehmigung zur Verwendung dieses
Artikels.
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